Beratungs-Hotline: +49 176 4525 9019(Mo.-Fr. 10 - 16 Uhr)

Jugendliche im Fokus – Neue Herausforderungen im Kontext von Radikalisierung und Extremismus

Auftakttreffen des Panels „Ideology & Conspiracy Narratives“ in Brüssel

Von Fabian Wichmann

Gruppenbild des „Ideology & Conspiracy Narratives“ im Rahmen des EU Knowledge Hub on Prevention of Radicalisation
Gruppenbild des „Ideology & Conspiracy Narratives“ im Rahmen des EU Knowledge Hub on Prevention of Radicalisation

Am 27. und 28. März 2025 fand in Brüssel das erste Treffen des von uns geleiteten Panels Ideology & Conspiracy Narratives“ im Rahmen des EU Knowledge Hub on Prevention of Radicalisation statt. Der Knowledge Hub bringt Praktiker*innen, politische Entscheidungsträger*innen und Wissenschaftler*innen aus ganz Europa sowie ausgewählten Drittstaaten zusammen, um gemeinsam wirksame Ansätze zur Radikalisierungsprävention zu entwickeln und weiterzudenken.

Thema des Panels: „How and Why Minors and Youth are Attracted to Extremist Ideas?“

Im Mittelpunkt unseres ersten Treffens stand ein hochaktueller Schwerpunkt: die Radikalisierung von Minderjährigen und Jugendlichen. Diskutiert wurden unter anderem die gezielte Ansprache junger Menschen durch extremistische Gruppen, die Rolle digitaler Plattformen, der Einfluss ideologischer Narrative und Verschwörungserzählungen sowie dringend notwendige präventive Maßnahmen.

Zentrale Erkenntnis: Jugendliche als aktive Akteure

Zentrale Erkenntnis: Jugendliche sind heute nicht mehr nur passive Empfänger extremistischer Inhalte, sondern zunehmend aktive Gestalter und Multiplikatoren radikalisierender Narrative – insbesondere in digitalen Räumen. Der Übergang zwischen Rebellion, Identitätssuche und ideologischer Aufladung verläuft oft fließend. Extremistische Gruppen nutzen digitale Plattformen gezielt aus, um Anschlussfähigkeit zu erzeugen – über popkulturelle Codes, Gamification oder vermeintlich harmlose Selbstoptimierungsangebote.

Ein beunruhigendes Signal liefert in diesem Zusammenhang die jüngst veröffentlichte Polizeiliche Kriminalstatistik 2024: Im vergangenen Jahr wurden 13.755 Kinder unter 14 Jahren als tatverdächtig im Zusammenhang mit schweren Straftaten erfasst – ein Anstieg von 11,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auch bei Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren ist ein deutlicher Zuwachs zu verzeichnen: 31.383 Tatverdächtige bedeuten einen Anstieg um 3,8 Prozent. Diese Zahlen zeigen, dass sich gesellschaftliche Spannungen und digitale Dynamiken zunehmend im Verhalten junger Menschen niederschlagen – auch jenseits explizit extremistischer Kontexte. Vor dem Hintergrund wachsender Radikalisierungstendenzen im Netz unterstreichen sie einmal mehr die Notwendigkeit frühzeitiger, umfassender und niedrigschwelliger Prävention.

Zentrale Takeaways aus unserem Panel
  • Digitale Resilienz stärken: Medienbildung, Achtsamkeit und gesunde Skepsis müssen bereits im Grundschulalter gefördert werden – als Basis für ein reflektiertes, kritisches und selbstbewusstes Verhalten in digitalen Räumen.
  • Plattformen sicher gestalten: Digitale Räume brauchen eine kindgerechte Architektur („Safety by Design“), die Schutz und Selbstwirksamkeit verbindet. Sie sind dabei nicht die alleinige Ursache für Radikalisierung, aber ein relevanter Risikofaktor, der im Zusammenspiel mit anderen Bedingungen wirkt.
  • Cross-sectional and multi-agency approach stärken: Eine wirksame Prävention erfordert die enge und dauerhafte Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg – zwischen Extremismusforschung, Entwicklungspsychologie, Bildungswesen, Sozialarbeit, Gesundheitswesen und Sicherheitsbehörden. Prävention ist nur wirksam, wenn sie vernetzt denkt.
  • Eltern und Pädagog*innen einbinden: Aufklärung, Monitoring und der offene, wertschätzende Dialog mit jungen Menschen müssen zentrale Bausteine im Alltag sein – sowohl in der Familie als auch in der Schule. Präventionsarbeit beginnt im Vertrauen.
  • Ursachen ganzheitlich betrachten: Radikalisierung ist kein individuelles Problem einzelner „auffälliger“ Jugendlicher, sondern Ausdruck gesellschaftlicher, sozialer und emotionaler Krisenlagen. Kinder und Jugendliche, die Probleme machen, haben oft selbst welche – dieser Perspektivwechsel ist grundlegend. Kinder und Jugendliche sind keine Risikofaktoren, sondern die Lösung ihrer Probleme ist eine gesellschaftliche Aufgabe.
  • Rechtlich und technisch regulieren: Es braucht klare gesetzliche Vorgaben für Altersverifikation und Content-Moderation auf digitalen Plattformen – ohne dabei überzureagieren oder Plattformen als alleinige Gefahrenquelle zu verstehen. Es geht um Schutzräume, nicht um Verbote.
  • Keine Konzentration auf sicherheitsbehördliches Handeln: Trotz notwendiger Kooperation mit Sicherheitsbehörden darf und kann das Thema nicht ausschließlich über strafrechtliche oder sicherheitspolitische Maßnahmen gelöst werden. Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, keine rein polizeiliche.
  • Schule und Elternhaus stärken: Bildungseinrichtungen und Eltern brauchen Strukturen, Ressourcen und Handlungssicherheit, um präventiv arbeiten zu können. Das bedeutet: Lehrkräfte qualifizieren, Prävention curricular verankern, Eltern mitnehmen – und junge Menschen aktiv einbinden.
Brücke zu unserem Fachtag „Die Attentäter*innen werden immer jünger“

Die Themen unseres Panels knüpfen direkt an die Inhalte unseres diesjährigen Fachtags „Die Attentäter*innen werden immer jünger“ an. Auch dort standen aktuelle Entwicklungen, Herausforderungen und Good Practice im Umgang mit radikalisierten Minderjährigen im Mittelpunkt.

Hinweis: Eine ausführliche Tagungsdokumentation erscheint in Kürze auf unserer Website.

Mehr zu unserem Fachtag.

Conlusion Paper: „How and Why Minors and Youth are Attracted to Extremist Ideas?“


Fabian Wichmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Grüner Vogel e.V. und Co-Leiter des Panels „Ideology & Conspiracy Narratives“ des EU Knowledge Hub on Prevention of Radicalisation.

Islamistischer Extremismus: Weniger organisiert, aber weiterhin gefährlich

Im Interview mit dem Deutschlandfunk beschreibt Franziska Frosch, unsere Mitarbeiterin des Grüner Vogel e.V. in Bonn, eine bemerkenswerte Veränderung in der Bedrohungslage: Die Zunahme von Messerangriffen steht für eine Schwächung des organisierten islamistischen Extremismus. Große, koordinierte Anschläge werden seltener – nicht, weil die Gefahr verschwunden ist, sondern weil den extremistischen Gruppen zunehmend die organisatorischen Strukturen fehlen.

Was wir stattdessen beobachten:
🔹 Mehr individuelle, unberechenbare Taten – weniger komplex, aber oft tödlich
🔹 Zerfall extremistischer Netzwerke, aber Fortbestehen radikaler Ideologien
🔹 Zunehmende gefühlte Unsicherheit in der Bevölkerung
🔹 Stigmatisierung ganzer gesellschaftlicher Gruppen, obwohl es sich meist um Einzeltäter handelt

Jedes Opfer ist eines zu viel. Auch wenn die organisierte Bedrohung abnimmt, bleiben die gesellschaftlichen und emotionalen Auswirkungen erheblich – für die Betroffenen und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Franziska Frosch macht deutlich: Es braucht differenzierte Analysen, gezielte Prävention und eine klare Kommunikation, um wirksam gegenzusteuern – ohne Vorurteile zu verstärken.

Zum vollständigen Interview: Deutschlandfunk – Franziska Frosch

Die Attentäter*innen werden immer jünger

Herausforderungen für die Präventionsarbeit im Spannungsfeld von Jugendschutz und öffentlicher Sicherheit

Grußwort vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Grußwort vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

Die Radikalisierung von Jugendlichen ist eine wachsende Herausforderung in vielen europäischen Ländern. Immer häufiger geraten Minderjährige über digitale Plattformen in extremistische Netzwerke. In Frankreich wurden mehrere Jugendliche durch gezielte Online-Propaganda in extremistische Kreise gezogen. Auch in Deutschland und Österreich melden Behörden vermehrt Fälle, in denen Minderjährige über soziale Netzwerke mit radikalen Gruppen in Kontakt treten. Jüngst verhinderten österreichische Ermittler einen Anschlag auf den Wiener Westbahnhof, geplant von einem 14-Jährigen, der durch seinen Konsum islamistischer Inhalte auf TikTok auffiel. In Deutschland wurden 2024 drei Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren festgenommen, die Angriffe auf Gerichte, Bahnhöfe und Polizeistationen planten. Diese Entwicklungen verdeutlichen, dass jugendliche Radikalisierung eine paneuropäische Problematik mit weitreichenden sozialen, psychologischen und rechtlichen Konsequenzen ist.

Radikalisierung erfolgt heute häufig in digitalen Räumen – in sozialen Medien, Messenger-Diensten und Online-Gaming-Communities, in denen junge Menschen mit extremistischen Inhalten in Kontakt kommen. Extremistische Akteure nutzen diese Plattformen gezielt aus, um Unsicherheiten aufzugreifen, Feindbilder zu schaffen und Jugendliche für ihre Zwecke zu mobilisieren. Rechtsextreme Gruppen wie die Feuerkrieg Division rekrutieren mit Verschwörungsnarrativen über einen bevorstehenden „Rassenkrieg“, dschihadistische Organisationen verbreiten Märtyrer-Narrative, und anti-etatistische Bewegungen stellen staatliche Institutionen als Feind dar. Besonders besorgniserregend ist die Verwischung ideologischer Grenzen, bei der extremistische Ideologien miteinander verschmelzen und Prävention sowie Intervention erschwert werden.

Von Konsumenten zu Akteuren: Jugendliche in extremistischen Netzwerken

Der aktuelle Europol-Bericht „The Recruitment of Young Perpetrators for Criminal Networks“ warnt vor alarmierenden Entwicklungen in Europa: „Die Rekrutierung von Minderjährigen für schwere und organisierte Kriminalität und Terrorismus ist kein neues Phänomen. Allerdings hat sie sich zunehmend zu einer gezielten Taktik von kriminellen Netzwerken entwickelt, um der Entdeckung, Festnahme und Strafverfolgung zu entgehen. In den letzten Jahren hat sich dieser Trend auf weitere Länder ausgeweitet, wobei sich die Rekrutierungsmethoden weiterentwickelt haben und Minderjährige zunehmend mit Gewaltakten wie Erpressung und Tötungen betraut werden.“ Ähnlich hebt Cecilia Polizzis Analyse im Global Terrorism Index 2025 hervor, dass die wachsende Beteiligung von Minderjährigen am heimischen Terrorismus die sich verändernde Natur des Extremismus verdeutlicht und die Risiken durch jüngere Täter verstärkt. Radikalisierte Jugendliche sind in der Lage, Netzwerke zu organisieren, andere zu rekrutieren und Anschläge mit einer Effizienz durchzuführen, die mit der von Erwachsenen vergleichbar ist.

Claudia Dantschke beim Impulsvortrag
Claudia Dantschke beim Impulsvortrag

Junge Menschen befinden sich in einer Lebensphase, in der Identitätsbildung, soziale Zugehörigkeit und der Wunsch nach Anerkennung eine zentrale Rolle spielen. Diese Faktoren machen sie besonders anfällig für manipulative Propaganda und gezielte Rekrutierung. Diese Aspekte wurden auf dem Fachtag intensiv diskutiert: Wie können gefährdete Jugendliche frühzeitig erreicht werden? Welche Ansätze haben sich in der praktischen Präventionsarbeit bewährt? Neben diesen Fragen spielten auch rechtliche Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Unterschiedliche gesetzliche Regelungen in Europa haben erhebliche Konsequenzen für Betroffene und Interventionsbehörden. Daher wurden auf dem Fachtag verschiedene Ansätze zur Harmonisierung von Präventionsmaßnahmen und rechtlichen Konsequenzen erörtert.

Fachtagung in Berlin

Zu diesem Themenfeld fand am 13. März 2025 unsere jährliche Fachtagung statt, dieses Jahr in Kooperation mit streetwork@online. Die Veranstaltung in den ehemaligen Osram-Höfen in Berlin brachte Expert*innen aus Wissenschaft, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen, um aktuelle Entwicklungen zu analysieren und Strategien zur Prävention zu erörtern. Moderiert wurde der Fachtag von Axel Schurbohm und Arne Augustini.

Bereits in der Eröffnung wurde die Relevanz des Themas betont: Die Zahl junger Menschen, die sich radikalisieren und in extremistische Netzwerke einsteigen, nimmt zu. Ob diese Entwicklung ausschließlich im Kontext des Islamismus zu sehen ist oder ob eine generelle Zunahme gewalttätiger Jugenddelinquenz vorliegt, war eine zentrale Frage in der Diskussion.

Podium mit Peter Neumann, Claudia Dantschke und Benno Köpfer
Diskussion mit Prof. Dr. Peter Neumann, Claudia Dantschke und Dr. Benno Köpfer

Neue Herausforderungen

Claudia Dantschke, Leiterin des Vereins Grüner Vogel e.V., gab einen Einblick in aktuelle Beratungsfälle mit Staatsschutzrelevanz. Sie stellte Herausforderungen für Beratungsstellen dar und erläuterte Veränderungen in der Radikalisierungslandschaft.

Dr. Benno Köpfer, Leiter der Islamismus-Abteilung beim Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, präsentierte Erkenntnisse des Verfassungsschutzes. Er ging auf Entwicklungen in der Bedrohungslage ein und thematisierte die Zusammenarbeit zwischen Prävention, Sicherheitsbehörden und Zivilgesellschaft.

Prof. Dr. Peter Neumann, Professor für Security Studies am King’s College London, stellte wissenschaftliche Erkenntnisse zur Frühradikalisierung im Kontext des Islamismus vor. Er betonte die Rolle sozialer Medien als Verbreitungsweg extremistischer Ideologien.

Am Nachmittag wurden Ansätze aus der praktischen Präventionsarbeit vorgestellt. Das Projekt streetwork@online erläuterte Strategien zur Ansprache radikalisierungsgefährdeter Jugendlicher in sozialen Medien. Dr. Anja Frank vom Deutschen Jugendinstitut präsentierte Forschungsergebnisse zur politischen Sozialisation Jugendlicher und ging auf Extremismus als gesellschaftliche Herausforderung ein.

Prof. Dr. Susann Prätor von der Polizeiakademie Niedersachsen stellte online ihre Forschungsergebnisse zu Jugendgewalt in Deutschland vor. Sie gab einen Überblick über polizeiliche Kriminalitätsstatistiken und korrigierte verbreitete Fehlwahrnehmungen zur Kriminalitätsentwicklung. Gleichzeitig zeigte sie jedoch auf, dass die Zahl minderjähriger Tatverdächtiger in den Kriminalitätsstatistiken steigt, was neue Herausforderungen für die Präventions- und Interventionsarbeit mit sich bringt.

Podiumsdiskussion: Konsequenzen für Sicherheit und Prävention

Den Abschluss bildete eine Podiumsdiskussion mit Vertreter*innen von Grüner Vogel e.V., der Beratungsstelle Salam vom Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Rheinland-Pfalz, dem Bayerischen Landeskriminalamt, streetwork@online, dem Deutschen Jugendinstitut und der Polizeiakademie Niedersachsen. Die Diskussion thematisierte Konsequenzen für Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftliche Akteure sowie die Bedeutung langfristiger Präventionsansätze.

Die Fachtagung lieferte tiefe Einblicke aus verschiedenen Perspektiven und verdeutlichte die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Sicherheitsbehörden und Präventionsarbeit, um extremistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Wir danken allen Referent*innen und Teilnehmenden für den fachlichen und engagierten Austausch.

Großer Dank geht auch an CinePanorama, die für einen reibungslosen technischen Ablauf gesorgt haben.

Eine ausführliche Tagungspublikation wird folgen.


Publikationen zu unserem Fachtag 2024
Mitschrift des Panelvortrags: Eine Zwischenbilanz der Deradikalisierungsarbeit der Beratungsstelle Leben des Vereins Grüner Vogel e.V. mit Rückkehrerinnen und ihren Kindern, mit Julia Berczyk, Claudia Dantschke, Alma Fathi und Kaan Orhon
Download der Broschüre auf Deutsch und auf Englisch

Mitschrift der Podiumsdiskussion: Zweite Chance nur für Frauen? Deutschland im europäischen Vergleich, mit Sofia Koller, Thomas Schmidinger, Susanne Wittmann, Claudia Dantschke und Axel Schurbohm
Download der Broschüre auf Deutsch und auf Englisch