Am 10. September 2025 gestaltete der Grüner Vogel e.V. eine Lehreinheit an der Hochschule der Polizei Brandenburg. Im Mittelpunkt stand die Arbeit im Bereich Deradikalisierung und Ausstiegsbegleitung. Die Veranstaltung richtete sich an Studierende des Masterstudiengang.

Radikalisierung hat immer eine Geschichte
In der Lehreinheit wurde verdeutlicht, dass Radikalisierung selten allein durch Ideologie ausgelöst wird. Häufig spielen biografische Faktoren eine entscheidende Rolle: persönliche Krisen, Erfahrungen von Ausgrenzung, Identitätsfragen oder das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Extremistische Gruppierungen nutzen diese Situationen gezielt aus, indem sie vermeintlich klare Orientierung, Zugehörigkeit und einfache Erklärungen anbieten.
Der lange Weg raus – Herausforderungen im Ausstieg
Auch die Begleitung von Ausstiegen und die damit verbundenen, individuellen Herausforderungen wurden thematisiert. Deutlich wurde: Der Weg aus extremistischen Szenen ist selten linear. Rückfälle, Zweifel und erneute Kontaktaufnahmen zur Szene gehören ebenso dazu wie Fortschritte und positive Wendepunkte. Entscheidend sind dabei Vertrauen, ein stabiles soziales Umfeld und die Entwicklung neuer Perspektiven – sei es im Bereich Ausbildung, Arbeit oder durch psychosoziale Unterstützung.
Radikalisierung ist auch ein Spiegel gesellschaftlicher Krisen
Die Diskussion machte auch deutlich, dass Radikalisierung nicht isoliert betrachtet werden kann. Sie steht immer im Kontext gesellschaftlicher Spannungen: Polarisierung, das Erstarken populistischer Diskurse, das Aufkommen neuer Krisen (z. B. durch Pandemie oder internationale Konflikte) und die Rolle sozialer Medien prägen den Rahmen, in dem Jugendliche und Erwachsene auf extreme Angebote stoßen.
Die Beratungsarbeit bewegt sich daher stets im Spannungsfeld zwischen individuellen Biografien und gesamtgesellschaftlichen Dynamiken. Sie trägt dazu bei, konkrete Wege aus extremistischen Szenen aufzuzeigen – und gleichzeitig die Gesellschaft als Ganzes resilienter gegenüber extremistischer Ideologie zu machen.
Präventionslandschaft in Deutschland
Deutschland verfügt im internationalen Vergleich über eine gut ausgebaute Präventionslandschaft. Insbesondere die tertiäre Prävention – also die Arbeit mit Menschen, die bereits radikalisiert sind oder Teil extremistischer Gruppierungen waren – gilt als international anerkannt. Gleichwohl bestehen Herausforderungen: Schulen und Jugendämter sind häufig überlastet, während zivilgesellschaftliche Träger regelmäßig mit unsicheren Finanzierungsbedingungen konfrontiert sind.
Neue Trends erfordern neue Antworten
Besonders hervorgehoben wurden aktuelle Trends:
- Die zunehmende Radikalisierung von Jugendlichen und Minderjährigen, die sich oftmals in sehr kurzen Zeiträumen und über digitale Plattformen vollzieht.
- Die Überschneidung von extremistischen Milieus und organisierter Kriminalität, etwa in Jugendcliquen oder Subkulturen, die Gewalt, Macht und Zugehörigkeit als verbindende Elemente nutzen.
- Die professionalisierte Online-Kommunikation extremistischer Akteure, die auf jugendaffine Codes, Lifestyle-Elemente und digitale Reichweiten setzt.
Vertrauen schaffen, Perspektiven eröffnen
Der Grüner Vogel e.V. stellte in diesem Kontext seine Arbeit in der Beratungsstelle Leben vor. Diese begleitet bundesweit Menschen, die aus extremistischen Strukturen aussteigen oder Distanzierungsschritte gehen wollen – ebenso wie deren Angehörige. Die Arbeit ist vertraulich, kultursensibel, ressourcenorientiert und erfolgt in enger Kooperation mit Jugendhilfe, Justiz, Sicherheitsbehörden und weiteren Fachstellen.
Ein besonderes Anliegen ist es, Brücken zwischen staatlichen Strukturen und Zivilgesellschaft zu schlagen. Unterschiedliche Arbeitslogiken – etwa die Ermittlungs- und Eingriffslogik der Polizei und die Beziehungs- und Unterstützungslogik der Beratung – können sich sinnvoll ergänzen, wenn gegenseitiges Verständnis vorhanden ist.
Dabei steht für uns stets im Vordergrund: die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit zivilgesellschaftlicher Angebote. Nur so kann Beratung glaubwürdig, vertrauensvoll und wirksam arbeiten – im Interesse der Betroffenen und zugleich im Sinne gesamtgesellschaftlicher Sicherheit.
Deradikalisierung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Die Lehreinheit an der Hochschule der Polizei Brandenburg verdeutlichte, wie wichtig es ist, diese unterschiedlichen Perspektiven miteinander zu verbinden. Prävention kann nur dann nachhaltig wirken, wenn sie individuelle Biografien, gesellschaftliche Rahmenbedingungen und sicherheitspolitische Anforderungen zusammendenkt.
Die Diskussion mit den Studierenden zeigte großes Interesse an diesen Fragestellungen – und machte zugleich deutlich, dass Deradikalisierung und Ausstieg nicht nur Themen einzelner Beratungsstellen sind, sondern Aufgaben, die unsere gesamte Gesellschaft betreffen.